(c) Lienhard Schulz, Quelle: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Schanzenwald_1_Berlin.JPG, CC BY-SA 3.0
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Mit bis zu 62 Metern über dem Meeresspiegel sind die Murellenberge zwar gerade einmal halb so hoch wie Berlins höchste Erhebung, der Teufelsberg, doch sie dürften wohl die steilsten Hügel im Stadtgebiet sein. Auf kurzer Strecke fallen sie rund 30 Meter in die Murellenschlucht ab, die während der letzten Eiszeit als Endmoräne des Berlin-Warschauer Urstromtals entstand. Jahrtausendelang verlief die Schlucht bis zum Stößensee, erst die in Dammlage errichtete S-Bahn zwischen Berlin und Spandau unterbrach diese Verbindung. Die nach Süden ausgerichteten Steilhänge bieten mit ihren halbschattigen offenen Sandböden hervorragende Lebensbedingungen für Insekten. Die letzte Zählung ermittelte einen Bestand von 92 überwiegend gefährdeten Bienen und Wespenarten. Diese Vorkommen sind zwar der wesentliche Grund, warum die 28 Hektar zwischen Glockenturmstraße und Friedhof Ruhleben unter Naturschutz stehen, aber nicht die einzige landschaftliche Besonderheit. Die hier wachsenden Mischwälder vorwiegend aus Eichen und Kiefern sind rar in der Region rund um die Hauptstadt. Aber wo sind die Murellen?
Von den Sauerkirschbäumen, den Schattenmorellen, denen die Gegend ihren Namen verdankt, findet sich weit und breit keine Spur. Wir beginnen die Suche am Murellenteich. Das Gewässer wenige Schritte südlich des U-Bahnhofs Ruhleben diente bis 1935 als Militärbadeanstalt. Während der Siebzigerjahre trocknete der Teich vorübergehend aus, ein Schicksal, das auch die Fließwiese Ruhleben ereilte, die wir über den Murellenweg erreichen. Grund für den gesunkenen Wasserspiegel war die zeitweise höhere Trinkwasserförderung im nahegelegenen Wasserwerk Tiefenwerder. Mittlerweile ist der Pegel wieder so weit gestiegen, dass das Fließ im Frühjahr regelmäßig überflutet ist. Es steht mit seinem Röhrichtbestand unter Naturschutz und dient dem Kammmolch und anderen Amphibien als Laichplatz. Auch Kraniche und Graugänse wurden in den vergangenen Jahren gesichtet. Am südlichen Ende der Fließwiese verengt sich das Tal und geht mit einer sanften Rechtskurve in die Murellenschlucht über. Allerdings ist der Durchgang versperrt. Hier ließen die Nazis zur Olympiade 1936 nach antikem Vorbild die Waldbühne in den Talkessel bauen. Um das Amphitheater zu umgehen, folgen wir einem steilen Pfad bergauf.
Die an der Gipfellinie der Murellenberge ankommenden Spaziergänger erwartet ein irritierender Anblick: Spiegel, Dutzende Verkehrsspiegel im Wald. Wie die Verkehrsspiegel im Straßenraum haben auch sie die Aufgabe, sichtbar zu machen, was nicht zu sehen ist. Denn diesem ruhigen, friedlichen Ort ist seine Vergangenheit als Hinrichtungsstätte nicht anzumerken. Bis April 1945, als die Rote Armee schon längst Berlin erreicht hatte, erschossen hier Wehrmachtssoldaten Desserteure und „Wehrkraftzersetzer“. Mindestens 230 Hinrichtungen sind bekannt, dafür zur Rechenschaft gezogen wurde aber niemand. Die Murellenberge, die in Richtung Nordwesten in den Schanzenwald übergehen, haben eine lange militärische Vergangenheit. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts veranstaltete das preußische Heer Schießübungen, nach der Wehrmacht übernahmen die britischen Streitkräfte das Gelände, um es bei ihrem Abzug an die Berliner Polizei zu übergeben. Diese trainiert weiterhin in der „Fighting City“, die die Briten nicht nur mit Häusern, sondern auch mit Brücken, U-Bahnwagen und einer Tankstelle ausgestattet haben. Einen Teil des Geländes gab die Polizei an die Forstverwaltung ab, die 2007 mit Ausgleichsmitteln, die die Deutsche Bahn für Natureingriffe an der ICE-Strecke Berlin–Hannover zahlen musste, das Areal renaturierte und sämtliche Baracken, Schießstände und Betonflächen entfernte.
Der mit den Gedenkspiegeln versehene Weg führt westlich der Waldbühne wieder hinab in die Murellenschlucht. Von hier, wo sich die für die Wespen und Wildbienen wichtigen Trockenrasenflächen an den steilen Südhängen befinden, ist es nicht mehr weit bis zum S-Bahnhof Pichelsberg.